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Gast 23088
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Als Filius vor ein paar Jahren seinen Motorradführerschein gemacht hat, habe ich nicht nur viel mit ihm geübt, sondern ihm auch zu erklären versucht, worauf es beim Motorradfahren nach meiner Erfahrung aus einer Dreiviertel Millionen Kilometern ankommt. Um auf dem Mopped langfristig zu überleben, sagte ich ihm, brauchst Du Übung, Hirn und Glück. Je weniger Du von einem davon hast, desto mehr brauchst Du von dem/den anderen. Diesen Ansatz habe ich jetzt einmal etwas ausformuliert, und vielleicht ist der Text ja für den ein oder anderen interessant:
Überleben auf dem Motorrad – das HÜG-Konzept
Motorradfahren ist nicht nur die faszinierendste Form der Fortbewegung, es ist auch eine ganz besondere Art der Welt- und Seinserfahrung. Aber Motorradfahren ist bekanntlich nicht ohne Risiken. Um langfristig auf dem Motorrad zu überleben, braucht der Kradfahrer deshalb drei Dinge: Hirn, Übung und Glück.
Hirn: Motorradfahren ist eine sehr emotionale und zuweilen adrenalingeschwängerte Angelegenheit, und das ist auch gut so, denn das macht einen Großteil des Reizes aus. Damit man trotzdem sicher unterwegs ist, braucht es aber ein gerüttelt Maß an Besonnenheit, muss die Ratio am Ende die Überhand gewinnen, muss die Vernunft ein Vetorecht haben und auch ausüben und die Pferde im Zaum halten, bevor sie durchgehen. Hirn meint somit eine vernünftige Selbst- und Risikoeinschätzung, Vorausschau, den Blick für schlechte Straßenzustände („Straße lesen“) und unaufmerksame Autofahrer genauso wie für eigene Unzulänglichkeiten.
Übung: Ein Motorrad sicher oder gar virtuos zu bewegen, verlangt bekanntermaßen vom Fahrer sehr viel mehr Können, als etwa das Lenken eines vierrädrigen Automobils. Kurvenfahren (das Salz in der Motorradsuppe!), Bremsen, all das will nicht nur gelernt, sondern regelmäßig geübt sein.
Glück: Auch der besonnenste und geübteste Motorradfahrer braucht zusätzlich auch eine ordentliche Portion Glück. Wer glaubt, alles immer selbst im Griff zu haben, unterliegt einer gefährlichen Illusion. Ob wir, wie Odo Marquardt meint, sogar immer „mehr unsere Zufälle als unsere Entscheidungen sind“ oder ob wir unser Schicksal am Ende doch mehr selbst in der Hand haben – alles unterliegt ganz sicher nicht unserer Kontrolle, und so brauchen wir auf dem Motorrad z.B. das Glück, nicht von einem Whats-App-tippenden Vollidioten abgeschossen zu werden, oder das Glück, dass dann, wenn man den Bitumenstreifen doch übersehen hat und auf die Gegenfahrbahn gerät, gerade kein Gegenverkehr kommt (hätte ich exakt dieses Glück nicht gehabt, würde ich diese Zeilen jetzt nicht schreiben können).
Hirn, Übung und Glück sind einerseits also komplementär, da man von allen ein Mindestmaß benötigt. Sie sind aber oberhalb des Mindestmaßes auch substitutiv, können sich also gegenseitig ersetzen: Je weniger man von einem hat, desto mehr braucht man von den jeweils anderen. Wer ohne Hirn und ungeübt durch die Gegend donnert, braucht verdammt viel Glück, der Glücklose dagegen mehr Übung als der Glückspilz usw..
Was also tun? Auf das Glück müssen wir am Ende hoffen, denn wir können es nicht wirklich beeinflussen. Ob wir nun ein vierblättriges Kleeblatt in das Futter der Lederkombi einnähen oder eine Christopherus-Plakette an den Tank nageln, ob wir generell an unserem Karma arbeiten oder Kerzen anzünden: All das mag uns beruhigen, aber aus wissenschaftlicher Sicht bleibt ein Effekt auf unser Schicksal nicht messbar. Wenn aber gilt, dass das Glück mit den Tüchtigen und jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, dann sollten wir zumindest tüchtig an den anderen beiden Polen schmieden!
Ob das beim Hirn überhaupt funktioniert, ist in den Neurowissenschaften strittig. Da gibt es die, die uns pessimistisch-deterministisch jede Hoffnung rauben: Freier Wille, Autonomie, Verantwortung, Vernunft, Verhaltensänderung: Alles reine Illusion, unser Hirn macht was es will und was von Anbeginn der Zeit festgelegt ist. Bleibt also ein hirnloser Raser auf alle Zeit ein hirnloser Raser? Können wir unsere Fahrweise überhaupt bewusst ändern? Vermutlich ja, und die angeblichen neurologischen Beweise für das Gegenteil (etwa die oft fehlinterpretierten Libet-Experimente) halten nicht wirklich, was sie versprechen (wer tiefer einsteigen will: Geyer, C. (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit; Keil, G.: Willensfreiheit und Determinismus oder Hasler, F.: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung). Wir können unser Hirn bewusst trainieren, können Impulskontrolle ein Stück weit lernen, können unser (Risiko)-Verhalten ändern - auch wenn es schwer ist. Deshalb: Beschäftigt Euch auch theoretisch mit dem Motorradfahren, mit Fahrphysik genauso, wie mit Verkehrspsychologie (Buchtip: Hansjörg Znoj: Die Psychologie des Motorrads) oder Unfallstatistiken. All das hilft, zu einer realistischen Risiko- und Selbstwahrnehmung zu gelangen. Und schließlich kann man Motorradfahren auch mental trainieren (Hans Eberspächer: Motorradfahren mental trainiert).
Bleibt schließlich die Übung! Sie macht bekanntlich den Meister, also übt, übt, übt. Macht Fahrsicherheitstrainings, Kurventrainings, Endurotrainings, Renntrainings - vor allem aber: Begreift jede Motorradfahrt als Trainingseinheit. Feilt ständig an einer sauberen Linie und der richtigen Kurventechnik, übt Blickführung und Bremsen, trainiert das Gleichgewicht (und, nebenbei, auch die eigene Muskulatur: Ein wenig körperliche Fitness kann beim Motorradfahren nicht schaden). Bekannter (aber eben auch guter!) Buchtip zum Thema Übung: Bernt Spiegel: Die obere Hälfte des Motorrads (und ggf. das Trainingsbuch dazu).
In diesem Sinne wünsche ich Euch ausreichnd Hirn, viel Spaß beim Üben und immer die nötige Portion Glück. Oder, wie es früher unter Kradfahrern hieß: Gabelbruch und Plattfuß!
Überleben auf dem Motorrad – das HÜG-Konzept
Motorradfahren ist nicht nur die faszinierendste Form der Fortbewegung, es ist auch eine ganz besondere Art der Welt- und Seinserfahrung. Aber Motorradfahren ist bekanntlich nicht ohne Risiken. Um langfristig auf dem Motorrad zu überleben, braucht der Kradfahrer deshalb drei Dinge: Hirn, Übung und Glück.
Hirn: Motorradfahren ist eine sehr emotionale und zuweilen adrenalingeschwängerte Angelegenheit, und das ist auch gut so, denn das macht einen Großteil des Reizes aus. Damit man trotzdem sicher unterwegs ist, braucht es aber ein gerüttelt Maß an Besonnenheit, muss die Ratio am Ende die Überhand gewinnen, muss die Vernunft ein Vetorecht haben und auch ausüben und die Pferde im Zaum halten, bevor sie durchgehen. Hirn meint somit eine vernünftige Selbst- und Risikoeinschätzung, Vorausschau, den Blick für schlechte Straßenzustände („Straße lesen“) und unaufmerksame Autofahrer genauso wie für eigene Unzulänglichkeiten.
Übung: Ein Motorrad sicher oder gar virtuos zu bewegen, verlangt bekanntermaßen vom Fahrer sehr viel mehr Können, als etwa das Lenken eines vierrädrigen Automobils. Kurvenfahren (das Salz in der Motorradsuppe!), Bremsen, all das will nicht nur gelernt, sondern regelmäßig geübt sein.
Glück: Auch der besonnenste und geübteste Motorradfahrer braucht zusätzlich auch eine ordentliche Portion Glück. Wer glaubt, alles immer selbst im Griff zu haben, unterliegt einer gefährlichen Illusion. Ob wir, wie Odo Marquardt meint, sogar immer „mehr unsere Zufälle als unsere Entscheidungen sind“ oder ob wir unser Schicksal am Ende doch mehr selbst in der Hand haben – alles unterliegt ganz sicher nicht unserer Kontrolle, und so brauchen wir auf dem Motorrad z.B. das Glück, nicht von einem Whats-App-tippenden Vollidioten abgeschossen zu werden, oder das Glück, dass dann, wenn man den Bitumenstreifen doch übersehen hat und auf die Gegenfahrbahn gerät, gerade kein Gegenverkehr kommt (hätte ich exakt dieses Glück nicht gehabt, würde ich diese Zeilen jetzt nicht schreiben können).
Hirn, Übung und Glück sind einerseits also komplementär, da man von allen ein Mindestmaß benötigt. Sie sind aber oberhalb des Mindestmaßes auch substitutiv, können sich also gegenseitig ersetzen: Je weniger man von einem hat, desto mehr braucht man von den jeweils anderen. Wer ohne Hirn und ungeübt durch die Gegend donnert, braucht verdammt viel Glück, der Glücklose dagegen mehr Übung als der Glückspilz usw..
Was also tun? Auf das Glück müssen wir am Ende hoffen, denn wir können es nicht wirklich beeinflussen. Ob wir nun ein vierblättriges Kleeblatt in das Futter der Lederkombi einnähen oder eine Christopherus-Plakette an den Tank nageln, ob wir generell an unserem Karma arbeiten oder Kerzen anzünden: All das mag uns beruhigen, aber aus wissenschaftlicher Sicht bleibt ein Effekt auf unser Schicksal nicht messbar. Wenn aber gilt, dass das Glück mit den Tüchtigen und jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, dann sollten wir zumindest tüchtig an den anderen beiden Polen schmieden!
Ob das beim Hirn überhaupt funktioniert, ist in den Neurowissenschaften strittig. Da gibt es die, die uns pessimistisch-deterministisch jede Hoffnung rauben: Freier Wille, Autonomie, Verantwortung, Vernunft, Verhaltensänderung: Alles reine Illusion, unser Hirn macht was es will und was von Anbeginn der Zeit festgelegt ist. Bleibt also ein hirnloser Raser auf alle Zeit ein hirnloser Raser? Können wir unsere Fahrweise überhaupt bewusst ändern? Vermutlich ja, und die angeblichen neurologischen Beweise für das Gegenteil (etwa die oft fehlinterpretierten Libet-Experimente) halten nicht wirklich, was sie versprechen (wer tiefer einsteigen will: Geyer, C. (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit; Keil, G.: Willensfreiheit und Determinismus oder Hasler, F.: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung). Wir können unser Hirn bewusst trainieren, können Impulskontrolle ein Stück weit lernen, können unser (Risiko)-Verhalten ändern - auch wenn es schwer ist. Deshalb: Beschäftigt Euch auch theoretisch mit dem Motorradfahren, mit Fahrphysik genauso, wie mit Verkehrspsychologie (Buchtip: Hansjörg Znoj: Die Psychologie des Motorrads) oder Unfallstatistiken. All das hilft, zu einer realistischen Risiko- und Selbstwahrnehmung zu gelangen. Und schließlich kann man Motorradfahren auch mental trainieren (Hans Eberspächer: Motorradfahren mental trainiert).
Bleibt schließlich die Übung! Sie macht bekanntlich den Meister, also übt, übt, übt. Macht Fahrsicherheitstrainings, Kurventrainings, Endurotrainings, Renntrainings - vor allem aber: Begreift jede Motorradfahrt als Trainingseinheit. Feilt ständig an einer sauberen Linie und der richtigen Kurventechnik, übt Blickführung und Bremsen, trainiert das Gleichgewicht (und, nebenbei, auch die eigene Muskulatur: Ein wenig körperliche Fitness kann beim Motorradfahren nicht schaden). Bekannter (aber eben auch guter!) Buchtip zum Thema Übung: Bernt Spiegel: Die obere Hälfte des Motorrads (und ggf. das Trainingsbuch dazu).
In diesem Sinne wünsche ich Euch ausreichnd Hirn, viel Spaß beim Üben und immer die nötige Portion Glück. Oder, wie es früher unter Kradfahrern hieß: Gabelbruch und Plattfuß!