Die Ausfahrt 2029
Teil 6
Ich gehe runter in die Garage – mein High Tech Anzug sitzt wie maßgeschneidert. Ist er ja auch – der morgendliche Ganzkörperscan lieferte die benötigten Daten an den Rechner – und der Rapid-Prototyp-3D-Cloth Printer hat das gute Stück ausgedruckt. Meinen Helm hat das Ranga Yogeshwar Institut entworfen und in Zusammenarbeit mit der NASA und der EADS hergestellt worden. Ein auf den ersten Blick konservatives Design, jedoch mit rundum abschließenden Kontakt zum Anzug. Das Innenvisier wird nicht geöffnet, das äußere Visier hat nur eine Alibi Funktion – kann dementsprechend geöffnet oder geschlossen werden – aber es hat halt keine Auswirkung. Man möchte den auszuwildernden Männchen eben den Schock der frischen Luft ersparen. Im Anzug, eine zweilagige Folienkonstruktion, selber herrscht ein automatisch reguliertes Klima. Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Geruch sind auf den jeweiligen Träger perfekt abgestimmt.
Ja da stehe ich nun vor „meiner“ Maschine. Es ist ein Nachbau einer nach der Jahrtausendwende sehr beliebtes Modell. In der Grundkonstruktion weitestgehend identisch mit der R 1200 GS der Jahre 2007 – 2010 gebauten Version. Allerdings mit den schon beschriebenen technischen Modifikationen für das Jahr 2029. So eine Maschine könnte heute gar nicht mehr finanziert werden. Ein Konsortium, unterstützt mit Staatsmitteln, hat dieses Forschungsprojekt erst realisieren können.
Ein echtes Problem bereitet die Zuteilung der Slots. Wir kennen das aus der Fliegerei. Man kann erst losfliegen, wenn der Landeplatz gesichert ist. Diese Zeitfenster gibt es jetzt für den sogenannten Individual Verkehr. Jedoch ist diese Art von Fortbewegung im Grunde tot. Die Tagesplanung, Ziele, Zwischenstopps und Zeitangaben, werden automatisch an die Zentralrechner gemeldet. Die teilen dann die Slots zu. Es kann passieren, dass man gar keine Fahrerlaubnis zum Starten bekommt – weil schlicht und ergreifend kein Platz mehr auf den „Straßen“ ist. Oder man gehört nicht zu den V.I.P`s. die natürlich immer noch bevorzugt behandelt werden. Es kann auch passieren, dass man irgendwo zusteigen muss, also Fahrgemeinschaften von Rechner Hand gesteuert.
Watt soll ich getz`bei einer Ausfahrt mit dem Moped eintragen: „Fahrt ins Blaue“ ? „Wollte ma`gucken watt so los is!“ Dann fang ich mir dann gleich ein paar Einheiten psychatrische Expressbehandlungen ein. So dösige Fragen: „Vermissen sie etwas in ihrem erfüllten Leben?“ Klar Du doofe Nuss: Mopedfahren natürlich. Oder „Hatten Sie einen schlechten Traum?“ Neh` hatt` ich nicht – einen guten sogar – sach` ich aber nicht. Bäh! Keinen Bock drauf - auf solche Sitzungen. Mopedfahren ist komplett nicht mehr vorgesehen. Doch dank des gut vorbreiteten Regierungsprogramms zur Auswilderung von domestizierten Männchen jedoch, habe ich quasi freie Hand – ich habe meine Streckenwünsche frühzeitig mitgeteilt und einen V.I.P. Status bekommen.
Ich schwinge mich auf`s Moped und drehe den „Zündschlüssel“. Wenn ich hier in der Siedlung einen herkömmlichen Verbrennungsmotor starten würde, käme ich stehenden Fußes in die Anstalt. Staatsfeind Nummer eins – Untergrabung der Moral – bewusster Angriff auf die Volksgesundheit - schwere Körperverletzung – ich würde das künstliche Tageslicht nicht mehr wiedersehen und meine Identität würde für mindestens 20 Jahre gelöscht werden. Keine ID = keine IP-Adresse – kannze einpacken – bisse praktisch tot.
Das mehrfarbige 3-D Display beginnt zu arbeiten. Alle relevanten Daten, GPS-Position, Ankunftszeiten, Routenverlauf, mögliche Kontakte auf dem Weg, inklusive meiner persönlichen Daten, Körpertemperatur, Puls, Blutdruck und Hormonhaushalt werden angezeigt.
Die Folien Motoren treiben mich geräuschlos an und ich erreiche die Straße. Hier erwartet mich meine „Begleitung“ – es sind Regierungsfahrzeuge, die mich auf dem Weg begleiten und die übrige Bevölkerung beruhigen, die beim Anblick eines Motorradfahrers im öffentlich Straßenbild im günstigsten Fall sofort in ein Wachkoma verfallen würden. Die anderen erlitten sofort eine tödliche Herzattacke. Auf der Straße werde ich vom Traktorstrahl erfasst der mich automatisch aus der Ruhrstadt geleitet. Mit einem Auto kannst du Dich innerhalb des –Traktorstrahl keinen Millimeter nach rechts oder links bewegen. Mit dem Motorrad habe ich die Möglichkeit innerhalb des Strahls 15 cm rechts oder links von der Mitte zu fahren. Mann arbeitet aber an einem Adventure Modells, wo es möglich sein wird, diesen Bereich auf 20cm zu erweitern. In dem Asphalt sind magnetische Teilchen, die sich durch den Druck elektrisch aufladen und jede Bewegung auf der Straße mit der entsprechenden IP-Adresse an die Zentralrechner melden und somit werden Geschwindigkeit und Fahrtstrecke in der Ruhrstadt zentral gesteuert.
Kurz zur Ruhrstadt – sie dehnt sich von Duisburg/Moers im Westen bis Dortmund im Osten von Recklinghausen im Norden bis Hagen im Süden aus. Eine Gründung dieses Molochs war notwendig, weil eine Gemeinde nach der anderen unter Zwangsverwaltung wegen Insolvenz gestellt werden musste. Regierung gibt es ja nicht mehr – alles wird nur noch rechnergesteuert verwaltet. Die Programme sind von führenden Wissenschaftlern geschrieben worden und passen sich den jeweiligen Verhältnissen automatisch an.
Da mir trotz der inneren Anspannung doch langweilig wird, spiele ich ein wenig an dem Bordcomputer. Das übersichtliche Touchpanel kann entweder per Tastendruck oder via Gedankenübertragung gesteuert werden. Aber da ich ja im Augenblick niGS zu tun hab` steuere ich per Fingerdruck. Plötzlich: „Achtung weibliches williges Wesen in 150m Entfernung rechts – 80% Übereinstimmung – Ziel bewegt sich in dem Quadranten 6024B in Richtung 3012A – „beeil Dich!“ – Rendezvous Koeffizient – 10 plus.
Ja – toll. Is` jetz` gerade schlecht – Experiment wäre gefährdet – GPS Verlaufsdaten der Person als Track laden und an den heimischen PC senden, zwecks späterer Auswertung – zweite Chance beantragen – späteres Wiedersehen nicht ausgeschlossen.
Der Folienmotor zieht mich weiter auf der Ost/Westachse durch mein ehemaliges Revier. Mittlerweile ist die frühere B1 – A40 jetzt in vier Etagen übereinander angeordnet und führt mit sechs Fahrspuren in jede Richtung mitten durch die Ruhrstadt. Dank meines V.I.P. Status und der Tatsache, dass ich mit dem Motorrad unterwegs bin, haben die mir wenigstens eine der oberen Fahrspuren zugeteilt.
Der Folienmotor: Eine Erfindung eines indischen Austausch Schülers, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Compact Musik Cassette aus den 70/80 und frühen 90er Jahren gesehen hatte. Die Funktionen sind ähnlich. Die elektrisch geladenen Folien treiben eine Vielzahl von Walzen an, die die mechanische Kraft an die Radnabe weitergeben. Gleichzeitig bilden sie den elektrischen Gegenpol zu den aufgeladenen Folien. Das Spannungsgefälle zwischen den Folien und den Walzen ergibt die Kraft, die so ein Motor erzeugen kann. Wenn die Ladung der Folien nachlässt, werden sie auch durch die Walzen wiederum aufgeladen. Entweder an der Steckdose oder durch die Brennstoffzelle, die Bremsrückgewinnung oder des Verbrennungsmotors. Dessen Einsatz ist allerdings nur auf bestimmten freigegebenen Strecken erlaubt. Wo die Abgase auch sofort abgesaugt und entsprechend entsorgt werden können.
Bis auf diese kleine Aufregung ist die Fahrt ruhig. Ich kann mir online ein paar Freunde aus dem GS-Forum runterladen und die zu meiner Tour einladen, Sie erscheinen dann als Hologramm auf der Straße bzw. im Rückspiegel.
Als das Motorradfahren verboten wurde, haben natürlich die einschlägigen Foren auch keine Themen mehr gehabt. Durch die Verladung der Server auf mobile Fahrzeuge konnte die Kommunikation noch einige Monate aufrecht erhalten werden und die Betreiber sich dem Zugriff entziehen, aber irgendwann war endgültig Schluss mit lustig – also Schicht am Schacht sozusagen. Nach massiven Protesten hat man dann das GS-Forum noch am Leben gelassen. Allerdings sind die Beiträge allesamt im Konjunktiv verfasst. „Mögliche Reiseberichte“, „Wenn ich ein Motorrad hätte, wie könnte ich es putzen“, „Morgen“ – ein Tag ohne Motorrad kann unmöglich einen „Guten Morgen“ Thread haben. „Wenn ich Zusatzscheinwerfer hätte, würde ich die „XY“ LED`s nehmen“ etc., etc.
Na ja die Hologramme sahen zwar verdammt echt aus, aber wenn ich da noch an meine erst Fahrt zu einem Motorradtreffen im Jahr 1985 denke - mit richtigen Motorrädern: Harley, MZ, BMW und Yamaha – mit realen Kumpels - Richtung Ostfriesland . . .
Da kommen Erinnerungen hoch . . . . . .
Mann datt` is jetz` 44 Jahre her, aber ich meine es wäre gestern gewesen . . . .
Glück Auf
Holger