I have a dream...
Auf der Suche nach einem Zweitmobbed zum Entschleunigen war ich neulich auch mal bei HD. Wirklich wahr.
Von wegen 160 Kilo und 40PS.
Schaden tuts nicht, sagte ich mir.
Setzte mich auf meine Dicke und abenteuerte los. Einfach so. Und dann war ich da.
Live und vor Ort.
Und was musste ich vor der Probefahrt einer Softail Standard (die günstigste Möglichkeit einer aktuellen HD mit Starrrahmenoptik, preislich übrigens deutlich unter Liste einer nackten GS) feststellen?
Hat die doch tatsächlich zwei Blinkerschalter.
Für jede Seite einen.
Hab mich da beinah wie auf meiner kleinen Q gefühlt. Fehlt nur der dritte Blinkerknopf zum Ausschalten - und natürlich die bunten Knöpfe.
Abweichend zu den älteren BMWs muss bei der Harley zum Ausschalten des Blinkers dieser noch einmal gedrückt werden.
Naja. Ein bisschen hirnrissig zwar, aber grundsätzlich hab ich mit separaten Blinkerschaltern kein Problem. Kenne ich seit 23 Jahren.
Drive-by-wire kenne ich auch schon. Mechanische Kupplung, Gas rechts -und beim Anfahren ein bisschen Gasgeben, meint der Harleymann. Damit ich nicht gleich auf der Stelle den Motor abwürge und noch vor dem Losfahren im Hof umfalle wie der Probefahrtaspirant vor mir.
Der ist dann auch gleich darauf ohne Probefahrt weg.
Apropos weg:
Also los geht's mit der Probefahrt. Draufsetzen, anlassen, Gang einlegen, losrollen.
Was fällt mir auf? Wie fühle ich mich?
Wie geht bzw. fährt das Eisenschwein?
Trotz elektronischem Gasgriff gibt es keine Fahrmodi. Auch kein buntes Mäusekino. Dafür aber ein Keyless-go mit mechanischem Schlüssel (hier für das Lenkschloss). Kenn ich. Mag ich nicht. Na ja.
Die Bremse ist schlicht (nur eine Scheibe vorn), trotzdem ankerte der Eimer ganz passabel. Etwas größere Hände als Gr.8 sind da von Vorteil. Die Hebel wirken doppelt so groß wie die der GS und etwas grobschlächtig.
Den Telelever vermisse ich nicht. Allerdings muss ich auch keine abrupten Vollbremsungen durchführen. Auch das ABS muss in der kurzen Zeit seine Leistungsfähigkeit nicht unter Beweis stellen. Bei einer Selbstbeteiligung von 2000Teuro im Fall eines Falles finde ich das gerade auch irgendwie verzichtbar.
Die Bremsanlage scheint aber wohl ganz passabel zu funktionieren:
Einem aktuellen Test der M*t*rad N*ws zufolge steht die aktuelle Lowrider S (mit noch ein paar kg mehr auf den Rippen, dafür mit vorderer Doppelscheibe) bei einer Vollbremsung aus Tempo 100 innerhalb 41m. Ganz ohne Brembo Stylema oder ähnlichem Ankergold.
Wegen der bei der Probefahrt fehlenden schlechten Straßen kann ich zum Fahrkomfort nicht wirklich was schreiben. Die Federung arbeitet. Bei einem hinteren Federweg von deutlich unter 100mm muss da aber die Sitzbank und der Rücken einiges wegstecken (können). So soft wie das Serienfahrwerk der 1250er GS im Roadmodus fährt sich der knapp 290kg schwere Eisenhaufen natürlich nicht.
Die Gabel ist nicht einstellbar, wohingegen das unter der Sitzbank versteckte Federbein mittels Hakenschlüssel angepasst werden kann.
Bei teuereren Modellen ist das dann hydraulisch mittels Drehknopf möglich.
Doof, dass ich nicht sehen kann, ob der Blinker grad ein- oder ausgeschaltet ist.
Die Infoeinheit ist bei der Maschine klein. So klein, dass die in die obere Gabelklemmung integriert ist. Vielleicht grad mal 3cm hoch und 10cm breit.
Monochrom.
Umschaltbar zum Abrufen diverser Informationen: Tages-/Gesamt-km, Drehzahl, Ganganzeige, Geschwindigkeit, Uhrzeit, Tankanzeige.
War bestimmt noch was, hab ich aber vergessen.
Bedient wird das über einen Schalter in der linken Schaltereinheit. Dort gibt es noch den Blinkerschalter, Lichthupe und Fernlicht.
LED-Licht und -Blinker gibt es -zumindest bei den etwas teureren Modellen- serienmäßig.
Die bieten dann auch serienmässige Lösungen für Sozia und Gepäck. Aber keinen abschliessbaren Tankdeckel.
Den hat die Probefahrmaschine ebenfalls nicht.
Und auch keine Mädchenkupplung.
Da braucht es schon Handkraft, um den Hebel zu betätigen. Schalten geht recht gut, wenn auch mit etwas langen Wegen und einem satten Klonk beim Einlegen des ersten Gangs.
American heavy metal. Passt also ganz gut zum Fahrzeug.
Beim Kraftstoffkonsum hält sich der Milwaukee-8 getaufte Motor angenehm zurück. Der Hersteller nennt 5,5l pro 100km.
Mit dem serienmäßigen 13,2l-Tank lassen sich bei StVO-konformer Fahrweise aber sogar Etappen von über 300km zurücklegen. Selbst getestet bei einer gemeinsamen Bayerwaldrunde mit einem Besitzer dieses Motorrads im Sommer diesen Jahres..
Die Sitzhaltung mit den Rasten direkt unter den Knien ist für meine <170cm schon grenzwertig. Kurzzeitig habe ich sogar einen Krampf im Oberschenkel aufgrund des ungewohnten Kniewinkels. Schließlich ist der Poppers noch tiefer unten als die Knie. Ergibt im Zusammenspiel mit dem Miniapehanger eine sehr spezielle Sitzposition, die ich am ehesten damit vergleichen möchte:
Stell dir vor, du sitzt in einem niedrigen Campingstuhl am Grill, und versuchst soeben, mit den anderen Leuten um dich herum mit einer Flasche Bier anzustossen.
Nur dass man auf dem Mobbed die ganze Zeit so sitzt. Ohne Bier. Ohne Grill. Ohne andere Menschen um dich herum. Und ohne Rückenlehne.
Interessant hingegen und ungewohnt, dass das riesen Trumm von Motor sich in Drehzahlbereichen bewegen lässt (und sich da auch wohlfühlt), die ich bisher nur von unserem alten Fendt-Traktor kenne. Schließlich hat jeder der beiden Zylinder mehr Hubraum, als der gesamte Boxermotor meiner kleinen Q (R850GS mit 848ccm).
Stadtverkehr spielt sich zwischen 1500- 2200 Touren ab. Über Land sind es dann auch mal über 3000 Umdrehungen. Immer stressfrei und mit dem Anspruch serviert, ein Cruiser statt eine Rennsemmel zu sein.
Easy going. Erstaunlich wenige Vibrationen.
Low revs.
Wieder die o.g. Mobbedzeitschrift zitierend:
Die Lowrider S benötigt bei Autobahntempo 130 gerade mal 3000 Umdrehungen.
Wow. Sogar meine Dose dreht da höher. Benziner, eh klar.
Serienmäßig hat die Softail Standard nur einen Solositz. Selbst bei näherer Betrachtung finden sich annähernd null Verzurrmöglichkeiten für Gepäck.
Reisen mit Sozia scheint wohl nicht das primäre Ziel dieses Modells zu sein.
Stattdessen meint der Verkäufer: HD sieht dieses Modell als günstige Basis für das Customizing.
Dafür bietet sie mit der Starrrahmenoptik und dem großen, kultiviert laufenden V2 eine wirklich gute Basis.
Modelle bis 2021 hatten noch verchromte Stahlspeichenräder. Diese wurden im aktuellen Modell durch Aluminiumgußräder ersetzt. Das erscheint mir als ein optischer Rückschritt und ist wohl dem Kostendruck geschuldet. Die aktuellen Europa-Modelle der Softail-Cruiser-Baureihe kommen m.W. alle aus Thailand. Ob der Hersteller damit versucht, auf die aktuellen politischen Einflüsse zu reagieren (Thema Strafzölle)?
Dies entzieht sich meiner Kenntnis.
Absolut betrachtet ist die Einsteiger-Softail kein Low-Budget-Motorrad. Für HD hingegen schon. Zumindest in die Mittelklasse.
Der Versuch mit den deutlich günstigeren 750er Maschinen darf wohl vorerst als grandios gescheitert angesehen werden. Und eine Sportster 1200 ist ein ganzes Stück kleiner als die mit einem Radstand von über 160cm und einer Länge von über 2,20m aufwartenden full-sized Softails.
Am Ende der 20 Minuten fahre ich also wieder auf den Hof des Händlers.
Drehe noch eine kleine Ehrenrunde. Schalte den Motor ab. Klappe den Seitenständer raus - tausendmal bei meinen Boxern praktiziert - und stelle das Teil gaaanz easy ab.
Verdammt. Die Kiste liegt gleich auf der Seite.
Ich hab doch den scheixx Ständer ausgeklappt?!
Echt jetzt? Vor all den Leuten?
Nach einer gefühlten Ewigkeit und einer bei HD als unmöglich zu bezeichnenden Schräglage steht der sackschwere Bock endlich. Puh.
War das jetzt nötig?
Immerhin trage ich echte Rockerkleidung.
Klamotten, die nur ganz coole Typen tragen (können).
So abgefahren, dass die selbst in den hippsten HD-Stores nicht zu finden ist:
Klapphelm, Daytona-Touringstiefel und - ganz ganz böse - schwarze Gortex-Textilklamotten.
Beantworte die erwartungsfreudig gestellte Frage nach dem "na, wie war's?" mit einem bayrischen "Passt scho" und denke mir "naja, is halt keine GS. Obwohl. Zwei Blinkerschalter hat sie ja".
Dann rauch ich eine und lasse die Eindrücke und das Mobbed auf mich wirken.
Fazit:
Diese Probefahrt war eine interessante "Erfahrung", die ich nicht missen möchte.
Der Eimer machte auf den paar km und in der kurzen Zeit (das Limit war 20 Minuten) tatsächlich Spaß - auf seine eigene Art und Weise.
Meiner Vorstellung bezüglich eines reise- und urlaubstauglichen Erstmotorrads entspricht sie zwar nicht, aber sie ist dafür genau so gut geeignet, wie die vielen anderen Motorräder (darunter übrigens auch viele GSsen), die auf der Dosenbahn und per Autoanhänger "gefahren" werden.
Als Zweitfahrzeug oder als Freizeitgerät zum Entspannen? Ja, da kann ich sie mir gut vorstellen. In Deutschland. In Europa. Auch in kurvigem Geläuf. Vor allem dann, wenn die erforderlichen Anpassungen an die eigenen Ansprüche und Bedürfnisse durchgeführt worden sind.
Das ist jetzt nicht das, was ich vor einem viertel Jahr geschrieben hätte.
Überhaupt nicht.
Manchmal hilft es einfach, mal die eigenen vier Wände zu verlassen und sich selbst ein Bild davon machen, wie es draussen aussieht.
So ganz ohne VR-Brille.
Live und in Farbe.
Und dann bin ich wieder auf mein Plastik-Ädwäntscher-Mobbed geklettert, hab das bayerische und austrianische Outback durchpflügt und nach einer richtig schönen Tour mein Straßen-Adventurebike in die Höhle gestellt, die es üblicherweise bewohnt.
Dorthin, wo eine Harley niemals nicht hinkommt. Mangels Adventuretauglichkeit.
Und weil sie einfach zu schwer ist. Halt ein Eisenhaufen.
Und weil so ein US-Gelumpe mit vorsinntflutlicher Technik ja nur Zahnwälte und andere Poser fahren.
Und das bin ich nicht.
I have a dream...