7. September
Lautaret, Galibier, Télégraphe, Mont Cenis, Montgenevre
„Hättet ihr ein Problem, wenn wir nach Nizza fahren würden, Norbert und ich?“
Es ist nach 11 Uhr und Basti lässt diesen Satz fast nebenbei fallen. Ich hatte es geahnt. Mehrere Sprüche von Norbert, bezüglich der HAT und des Mittelmeers hatten bei mir schon den Verdacht genährt, dass sowas im Busch ist.
Auch 2021 in Istrien hatte man seitens der beiden demokratischen Mitreisenden spontan beschlossen, abweichend von meinem Programm eine beach-Saufparty in Porec zu besuchen, irgendein Plätzchen für die Nacht werde sich dort schon finden.
Nachdem ich eher ein strukturierter und organisierter Mensch bin, habe ich auf sowas keinen Bock. Und von Saufparties halte ich auch nichts.
Mike winkt müde ab, der ist fertig wie ein Schnitzel und gibt zu verstehen, dass es ihm gar nichts ausmacht, heute nicht aufs Mopped zu steigen.
„Überhaupt nicht“ lüge ich und bin richtig angepisst, denn ich habe schon über eine Stunde an einer Route für den heutigen Tag gebastelt, die neben Teilen der Assietta auch den Eselspfad zum Lac de Mont Cenis beinhaltet hätte.
Sei's drum, es ist es nicht wert, sich zu ärgern, zumal das nichts ändert und offensichtlich bereits gestern Abend unter den beiden beschlossene Sache war, blöd ist, dass es nun fast Mittag ist, der halbe Tag verschenkt.
Ich wünsche allerseits einen angenehmen Tag und gute Reise, werfe zwei Flaschen Wasser in den Tankrucksack und starte meine BMW.
Zügig cruise ich den Lautaret hinauf und biege rechts zum Col du Galibier ab. Der ist erfreulich frei, keine Bumscontainer, kaum Radfahrer, die kleine GS fliegt um die Kurven und mein Kopf befreit sich vom Ärger.
Selbstverständlich fahre ich nicht durch den Tunnel, sondern über die Passhöhe und lege hinter der ehemals bewirtschafteten Schutzhütte an der Nordrampe eine Pause ein.
Ich überlege, wann ich das erste Mal hier oben war. Das war Anfang der 80er Jahre mit meiner BMW R100S auf dem Weg ans Mittelmeer. Zu zweit, mit einem großen LOUIS – Zelt, zwei Gummi-Lumas, Kochgeschirr und Kocher, Schlafsäcken, irgendwie ging das.
Die Hütte ist seit ein paar Jahren geschlossen und verfällt. Ein trostloser Anblick.
Ich schwinge den Galibier hinab und mache den nächsten Stopp an der Fläche mit den Stroharrangements am Ortseingang von Valloire. Interessante Kunstwerke aus Stroh werden dort prämiert, lange bleibe ich jedoch nicht, die Mittagssonne brennt kräftig.
Prompt hänge ich wenig später hinter einem silbernen Wohnmobil mit französischem Kennzeichen und weiß sofort wieder, weshalb ich diese Dinger nebst Fahrern aus tiefstem Herzen verachte.
In besserem Schritttempo kriecht diese Arschgeige durch Valloire und glotzt sich vermutlich die Gegend an.
Ich muss das einige Zeit aushalten, da mir die Straßenführung keine Chance zum Vorbeifahren lässt.
Als es mir auf einem knapp bemessenen Stück doch gelingt, wacht das Rindvieh in seinem rollenden Scheißhaus wohl kurz auf, immerhin findet er Hupe und Lichthupe, um sich aufzuregen.
Das geht mir am Allerwertesten vorbei, hinter Valloire kann ich wieder befreit Gas geben, quere den Col du Télégraphe und gelange ins Arctal.
Hier ändere ich meinen Plan, denn nach nur knapp 70 Kilometern tut mir bereits gehörig der Hintern weh. Zwischendurch im Stehen zu fahren, um das Gesäß zu entlasten, scheitert an meinen Knien, die das nicht wollen.
Die letzten vier intensiven Tage fordern ihren Tribut.
Statt nach Westen zu fahren, wo hinter St. Jean de Maurienne zahlreich kleine Passstraßen bis zum Lac du Chambon hinter Alpe d’Huez locken, nehme ich die gut ausgebaute, schnelle Straße entlang des Arc nach Osten, um über den Col du Mt. Cenis wieder grob in Richtung Briancon zu fahren.
Hier locken die Schotterpiste südwestlich des Lac und evtl. noch die Assietta ab Meana bis Sestriere.
Kurz hinter Modane darf ich dann ungewollt noch kleine Sträßchen testen, denn die breite D1006 entlang des Arc ist gesperrt. Baustelle.
Blöd nur, dass eben der gesamte Verkehr, der sonst auf dieser Hauptader unterwegs ist, auch über diese kurvenreiche, schmale Straße geleitet wird, darunter ein großer Baustellenlaster und vorneweg -man ahnt es bereits - wieder so ein verficktes Wohnmobil im Zuckelmodus, denn der LKW – Fahrer würde auch gerne schneller fahren, hängt aber dahinter.
„Schieb‘ doch den Wichser von der Straße“ brumme ich in meinen Helm, aber der Typ im Laster hört das nicht und kann so meinem Wunsch auch nicht Folge leisten.
Kurz darauf gelingt es mir, die Kolonne, die der WoMo-Depp hinter sich herzieht, abzuvespern und - das ist der Vorteil – dann habe ich freie Bahn.
Hinauf zum Mt. Cénis fahre ich hinter einem weißen Opel Combo her, der fährt angemessen zügig, dennoch ist der in den Kurven hinderlich, die man schön flüssig fahren könnte und es wäre auch ein Leichtes, den zu überholen.
Allerdings habe ich auch die Leuchten auf dem Dach des Combo und das Schild „police municipale“, das hinten im Laderaum hängt, gesehen.
Es gibt mehrere Sorten von Polizei in Frankreich, Police Nationale, Gendarmerie und eben diese Gemeindepolizei, aber wer für was zuständig ist, weiß ich nicht und bleibe vorsichtshalber mit Abstand dahinter. Hier ist Tempo 80 angesagt, der fährt schon schneller.
Hinter der Passhöhe und dem Gasthof „Le Relais du Col“ führt ein asphaltierter Weg rechts weg, da stehen drei Müllcontainer, so kann man sich das merken.
Von diesem Sträßchen hat man einen schönen Blick über den türkisblauen See und das dahinter liegende Fort du Variselle.
Nach wenigen hundert Metern biege ich im spitzen Winkel rechts ab und fahre am See entlang. Das Sträßchen führt am Réfuge du Petit Mont Cenis vorbei und endet hinter der Farm Coulours am Col du Petit Mt. Cenis an einem Wanderparkplatz. Ich wollte mir den weiterführenden Weg mal anschauen, der zum Lac de Coulours führt, aber der ist grob und schmal.
Meine Vernunft meldet sich: „Wenn Du hier auf die Fresse fällst, ist keiner da, um zu helfen“.
Ich gebe der Vernunft Recht, wende die F800GS mit reichlich Mühe und fahre zurück.
Südwestlich des Sees führt eine Schotterstraße, die keine Herausforderung darstellt, nach Osten, über den Staudamm kommt man dann wieder auf die Hauptstraße nach Susa, alternativ auf den Maultierpfad über den kleinen Bergsee Lac de Roterel oder hinauf zum Fort Malamot.
Ich biege zur Schotterstraße ab, es folgt die Holzbrücke über den Bach Ruisseau du Savalain, dann folgt…
… ein Verbotsschild.
Auch das ist neu, die Schotterstraße ist für motorisierten Verkehr gesperrt. Nicht saisonal, nein, dauerhaft. Ich respektiere solche Verbote und wende meine BMW mit einem Seufzer.
Jetzt redet noch einer mit: Mein Hintern. „Mir reichts langsam“ meint dieser und ich rolle gemütlich den Pass hinunter nach Susa. Die Pizzeria und das Café daneben sind geschlossen, ich steuere die Agip-Tankstelle an, tanke die 800er voll und hole mir ein eiskaltes San Pellegrino.
Eine halbe Stunde sitze ich auf einer Bank vor der Tankstelle, beobachte das Treiben dort und sinniere vor mich hin.
Colle Finestre und Assietta? „Nein, auf keinen Fall!“ melden sich meine Knie.
„Ja Himmelarschundzwirn, meint denn hier so langsam jeder, er könne mitreden?“
Ein dreistimmiges „Ja“ ist die niederschmetternde Antwort und so füge ich mich in mein Schicksal. Am Ende werden es heute doch noch 220 Kilometer.
Auf dem Heimweg mache ich noch einen Zwischenstopp im Tourist office in Oulx. Die nette Dame versorgt mich mit kostenlosen „offroad“ – Karten, man setzt in der Region noch auf die Schotterfreunde, aber mehr und mehr auf die, die ein Fahrzeug mit Tretkurbel haben. Das ist aus gänzlichen und temporären Sperrungen für den motorisierten Verkehr klar ersichtlich.
Aber die Region sucht dringend nach touristischen Standbeinen, der Skitourismus kommt mehr und mehr zum Erliegen, es ist zu warm und zu trocken. Kein Schnee, kein Skifahren. Riesige Urlaubs-Appartement – Betonburgen wie ich sie bei Cesana Torinese entdeckt habe, stehen leer.
In der Bäckerei am Ortseingang von Briancon erstehe ich noch zwei Baguette, ich hatte im Geiste den Inhalt unseres Kühlschranks überschlagen und was ich daraus für Mike und mich noch machen könnte, denn am Samstagmorgen muss alles geräumt sein.
Das gelingt, auch zu Mikes Zufriedenheit, wir zischen noch ein paar Bierchen auf dem Balkon und chatten mit Basti, der Bilder vom HAT-Start und vom Mittelmeer schickt.