Über die Verhältnisse leben und nicht wettbewerbsfähig sein. Das ist der Punkt, den Wolfgang Schäuble als das Kernproblem Griechenlands herausstellt, womit er richtig liegt. Und ja, das ist ein Punkt, der sich in der Tat schon
vor der Finanzkrise entwickelt hat und der für den Absturz der griechischen Wirtschaft eine große und zunehmende Rolle gespielt hat und bis heute spielt. Das Wachstum der Nachfrage speiste sich großenteils aus Lohnzuwächsen, denen keine so große Produktivitätszunahme entsprach, dass sich die griechische Inflationsrate in einem für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit erträglichen Bereich bewegt hätte. Griechenland kaufte kräftig Konsum- und Investitionsgüter ein, aber zu erheblichen Teilen nicht bei der eigenen Wirtschaft, sondern im preiswerteren Ausland, ohne im Gegenzug ungefähr so viel exportieren zu können. Dafür war das Land nämlich zunehmend zu teuer.
Doch zu einem solchen
Über-die-Verhältnisse-Leben eines Landes gehört dazu, dass mindestens ein anderes Land
unter seinen Verhältnissen lebt. Denn wenn die einen mehr verbrauchen, als sie herstellen, dann ist das nur möglich, wenn ihnen andere dieses Mehr zur Verfügung stellen, indem sie selbst weniger verbrauchen, als sie herstellen. Oder anders ausgedrückt: Keine Verschuldung ohne Ersparnisse, keine Schuldner ohne Gläubiger. Und eine „zu geringe“ Wettbewerbsfähigkeit, die genau diese Verschuldung nach sich zieht, ist nur möglich, wenn andere eine „zu hohe“ Wettbewerbsfähigkeit haben.
Dass der Bundesfinanzminister diese Kehrseite der griechischen Problematik nicht anspricht,
ja vermutlich nicht einmal erkennt, liegt daran, dass er einerseits Wettbewerbsfähigkeit für ein absolutes und kein relatives Konzept hält und dass er andererseits gegen Nettoexportüberschüsse des eigenen Landes nichts einzuwenden hat. Dass er damit vollkommen falsch liegt, wurde in den letzten Jahren viele Male klar analysiert und soll hier nicht im einzelnen wiederholt werden.
Das Verrückte ist, dass das einzige stichhaltige Argument dafür, dass die permanente Fortsetzung der griechischen Krise nicht allein auf die Sparauflagen zurückzuführen ist, sondern auch mit vorausgegangenen Fehlentwicklungen zu tun hat, genau das Problem umreißt, für das Griechenland nicht allein zuständig ist
und das Griechenland nicht allein lösen kann.
Griechenland hat versucht, seine Lücke bei der Wettbewerbsfähigkeit durch eine deflationäre Strategie zu schließen. Das ist ihm aber bei weitem nicht so gelungen, dass es nun mit dem großen Gläubiger Deutschland mithalten könnte, was es aber müsste, um Schulden zurückzahlen zu können und um genügend positive Konjunkturimpulse vom Außenhandel zu erhalten. Deutschland seinerseits tut so gut wie nichts dafür, die eigene Fehlentwicklung in die andere Richtung (nämlich jahrelange Unterbietung des europäischen Inflationsziels) endlich deutlich und zügig zu korrigieren.
Während also der Nutzen der griechischen Bemühungen, die alten Fehlentwicklungen bei der Wettbewerbsfähigkeit zu korrigieren, sehr gering ausfällt, weil Deutschland sich nicht zur Korrektur seiner Fehler bequemt, ist stattdessen der Preis für die griechische Deflationsstrategie sehr hoch, genauer gesagt: zu hoch. Denn er besteht in Form einer darbenden, an der Demokratie und der Marktwirtschaft (ver)zweifelnden Bevölkerung. Was Wunder, dass die sich nach viereinhalb Jahren „Hilfsprogrammen“ weigert, diesen brutalen Weg weiter zu gehen.
Die neue griechische Regierung ist gewählt worden, um die verheerende Wirtschaftspolitik, die solche Ergebnisse mit sich gebracht hat, zu beenden. Es war immer klar, dass es so kommen musste. Man kann den Menschen nicht beliebige Schmerzen und Anpassungslasten zufügen, ohne dass sie das einzige Mittel, das sie in einer Demokratie haben, um sich zu wehren, nämlich die Abwahl der Regierung, irgendwann nutzen. Jetzt will der Norden nichts anderes verhindern, als dass dieses letzte Mittel eine positive Wirkung zeigt.
Die offenkundige Blindheit der Politiker im Norden für die Verhältnisse im Süden droht Europa zu sprengen. Es scheint, als hätten die Politiker des Nordens bei den Verhandlungen neulich in Brüssel einen von der Kommission ausgearbeiteten Kompromiss ausgeschlagen (
so berichtet es Bloomberg, zitiert von der WELT). Das bedeutet nichts anderes, als dass einige Leute an einer linken Regierung ein Exempel statuieren wollen. Es soll nach dem Scheitern von SYRIZA von vorneherein niemand mehr auf die Idee kommen, links zu wählen.
„Das griechische Njet muss Konsequenzen haben“, erklärte der CSU-Bundestagsabgeordnete Hans Michelbach
im Handelsblatt. (Ob er mit dieser Wortwahl zum Ausdruck bringen wollte, dass er die griechische Regierung in enger Verbindung mit Russland sieht, oder ob er eine eigene Nähe Richtung Moskau andeuten wollte?) Der EZB bleibe nach ihren Statuten, erklärte er, jetzt gar keine andere Wahl, als Athen endgültig den Geldhahn zuzudrehen.
Man fragt sich, wohin dieser Rat führen soll, wenn er befolgt würde. Wird dann Griechenland für die nächsten hundert Jahre unter deutsche Verwaltung gestellt? Und was geschieht, wenn sich die anderen Krisenländer ebenfalls nicht zügig und für die Masse der Bevölkerung spürbar erholen, wie das zu befürchten steht? Was, wenn dann trotz oder gerade wegen des griechischen Beispiels dort demokratische Wahlen zu Regierungskonstellationen führen, die die Verhältnisse in Athen an extremer Gesinnung noch übertreffen, vor allem in die rechte Richtung? Wird denen dann auch der Geldhahn zugedreht?
Oder wenn die Entwicklungen an den Kapitalmärkten bei einem erzwungenen Austritt Griechenlands aus der EWU oder dem eines anderen Landes so aus dem Ruder laufen, dass die EZB massiv eingreifen müsste, um ein Auseinanderbrechen der restlichen Währungsunion und eine darauf folgende verheerende europaweite Rezession zu verhindern? Was werden Politiker wie Hans Michelbach dann empfehlen?
Noch mehr aber fragt man sich, wo die deutsche Bundeskanzlerin ist. Hat sie bei ihren Vermittlungsversuchen in der Ukraine übersehen, dass zwischen dem Norden und dem Süden Europas ein viel größerer Konflikt droht mit noch schlimmeren langfristigen Konsequenzen für Deutschland? Wann ergreift sie Partei für die Vernunft und pfeift die rechten Kohorten zurück, denen Demokratie offensichtlich nichts bedeutet? Und wo sind die Sozialdemokraten, man mag es schon fast nicht mehr fragen? Gibt es in der ganzen Partei niemanden mehr, der den Mut hat, gegen diesen Wahnsinn öffentlich aufzustehen? Wo sind die Grünen, die doch so gerne gute Europäer sein wollen?
Die griechische Regierung kann, wenn es weiter so schlecht läuft, in wenigen Tagen vor der Wahl stehen, entweder ein Ausstiegsszenario aus dem Euro ins Auge fassen zu müssen, das für ganz Europa Schock und Chaos bedeuten kann, oder sich dem Diktat aus Berlin zu beugen und dann sofort zurückzutreten. Auch das zöge voraussichtlich Chaos nach sich, und zwar – anders als sich das offenbar viele Politiker in Deutschland vorstellen – nicht nur in Griechenland.
Warum ist es so schwer zu begreifen, dass sich die Mehrheit der Griechen zurecht weigert, ein Hilfsprogramm weiterzuführen, das niemals so funktioniert hat, wie es die Geldgeber versprochen haben, und das der Masse der griechischen Bevölkerung offenkundig gewaltigen Schaden zugefügt hat
und weiter zufügen wird? Die Fortführung dieses Programms ist gegen jede Vernunft und wird in den anderen von der Krise und ähnlichen Programmen betroffenen Ländern einschließlich Italien und Frankreich den radikalen Anti-Europäern auf der rechten Seite des politischen Spektrums enormen Auftrieb geben.
Die Verantwortung für diese Entwicklung trägt überwiegend Deutschland, das sich von Beginn der Währungsunion an geweigert hat, die grundlegenden Spielregeln einer solchen Vereinigung zu benennen, anzuerkennen und sich daran zu halten, und das seit Ausbruch der Krise weitgehend kollektiv leugnet, dass die Missachtung dieser Spielregeln die Hauptursache der Krise darstellt.
Zitat Ende. Eine bessere Analyse des Problems hab ich bisher nirgends gefunden.