Gute Frage Jürgen. Es hängt davon ab.Manchmal brauche ich es nicht so sehr, aber manchmal echt. Eine blöde oder stressige oder beides Woche, mehrere Tage nicht zum Fahren gekommen, alle haben genervt und ich erst recht, aber doch nur zwei Tage frei, obwohl eigentlich mind eine ganze Woche fällig wäre. In diesem beschränkten Fenster sollte dann auch noch etwas Anderes als 'nur gerade' Motorradfahren reinpassen. Und trotzdem will ich nicht nur die Runden drehen, die ich sonst am Feierabend in zwei drei Stunden feile. Also etwas nicht ganz Übliches, etwas frei gewählt Sinnfreies (ok, Blödes):
(Gilt von Frühsommer bis ganzen Oktober) Um 23 Uhr schlafen legen, um 4 Uhr aufstehen, Kaffee machen, gleichzeitig Duschen, zwei Portionen Kaffee zusammen mit Milch in eine Thermoskanne und eine Portion in mich abfüllen, ein paar Brote streichen und einpacken, die steife Kombi mit steifem Blick und Gänsehaut überziehen, Abfahrt um 4.30. Per Autobahn während 1,5h an den Fuss der franz. Berge fahren, d.h. kurz vor 6 Uhr den ersten Pass, kurz danach die franz. Grenze. Die Griffheizung braucht es, die Strassen sind vielleicht noch feucht, das Licht diffus und der Blick noch nicht ganz scharf; egal es kommen noch viele Kurven. Dann ein Pass nach dem anderen, hunderte Kurven, immer alles Richtung Süd südsüd.
Zigarettenpausen mit Kaffee und Broten alle eineinhalb bis zwei Stunden, Tanken und für kleine Jungs nicht vergessen. Schmerzen am Hintern, im Nacken, an den Händen, all dies tritt mit der sich stetig verändernden Landschaft in den Hintergrund. Diese anderen Formen und Farben, die anderen Bauweisen der Häuser und Kirchen, die andere Fahrweise der Verkehrsteilnehmer, die anderen Gesichter der Dörfer, die Leute bei ihren unterschiedlichen Tätigkeiten, diese Weiten!
Nur eines bleibt immer gleich: Beschleunigung, Überholen, Bremsen, Abmessen und Einschätzen, wieder Überholen, Bremsen, Kurven Kurven, wieder Beschleunigung.
Wie im Traum und doch deutlich merkbar in der Realität komme ich um ca. 16 Uhr in Nizza an, je nach gewählter Route. Eine knappe Stunde Pause, eine entspannte Mahlzeit mit Blick aufs Meer und die Schiffe und die Menschen bei ihrem Tun und Lassen. Erstaunen darüber, wo ich gelandet bin - die Erinnerung an heute früh kann irgendwie nicht Schritt halten, als wäre ich gebeamt worden. Die schiere Entfernung von zuhause, wo Freuden und Verpflichtungen zurückgelassen wurden treiben zur Eile.
Abfahrt in Nizza um 17 Uhr. Rückfahrt wahlweise über die Ligurische Küste - Alessandria - Aosta - Grosser St. Bernhard (alles Autobahn ausser der grosse St. Bernhard, der vor und nach dem Tunnel etwas Landstrasse hat) oder über eine der Routes Napoleon (hier zuerst während ca. 4 h gut ausgebaute Landstrasse, ab Grenoble dann nochmal knapp drei Stunden Autobahn bis nachhause).
Dann stehe ich irgendwann zwischen 24 und 02 Uhr zuhause am Fenster mit der letzten Zigarette und dem ersten Glas Rotwein oder Bier des Tages. Und müsste ich mich in diesem Moment festlegen, ich wäre mir wohl nicht ganz sicher, was ich nun geträumt, und was ich wirklch erlebt habe (zwei Nächte Schlaf später fällt die Unterscheidung dann leichter). Am nächsten Tag bin ich zu nichts zu gebrauche; nur damit auch das gesagt ist.
Solche Programms gibt es nicht nur an die Mittelmeerküste - das franz. Zentralmassiv ist gerade im Frühjahr sehr angeagt (3,5h Autobahn hin und 3,5h zurück - es bleiben also 10h netto dort unten, ist doch was!). An die Pyrenäne fahre ich jedoch nur, wenn ich fünf Tage frei nehmen kann: 1 Tag hin, zwei Tage dort, 1 Tag zurück, 1 Tag Erholung inkl. real life zuhause.
Dies alles mag nicht besonders intelligent sein. Aber je nach Lebenssituation bleibt nicht viel Anderes übrig, wenn man nicht nur immer die gleichen Routen fahren will.
Um die gestellte Frage also zu beantworten: Nicht immer, aber doch regelmässig lohnen sich lange hin und lange Rückwege. Diese Form der Freiheit ist neben Anderem gerade das, was das Motorradfahren für mich ausmacht.
In diesem Sinn frohes Fortgewegen und Reisen auf zwei Rädern, um die eigenen vier Wände oder noch etwas weiter herum. Gruss Rolf.