Vor ein paar Jahren ist hier in der Nähe der über 60-jährige Fahrer einer älteren GS während er innerorts im Geschwindigkeitsbereich um 50 km/h einen deutlich langsameren PKW überholte plötzlich in ein Wheelie geraten, auf dem Hinterrad fahrend frontal mit einem entgegenkommenden Langholzlaster zusammengekracht und an den Folgen gestorben. Der Langholzlaster war in die Straße eingebogen und kam dem Motorradfahrer entgegen. Mutmaßlich wollte dieser durch beherztes Gasgeben das Überholmanöver abkürzen.
Ich habe viele Jahre im Verein Tischtennis gespielt. Da haben wir mit dem Ball allerlei Kunststückchen gemacht, die im realen Punktspiel nie vorkamen, einfach um mehr Ballgefühl zu bekommen. Und ich denke, mit diesem Mehr an Ballgefühl hat man dann im Spiel den einen oder anderen Punkt gerettet, der vielleicht verloren gegangen wäre, hätte man immer nur "Punktspiel geübt".
Und so denke ich auch, daß es besser ist, mit seinem Auto oder Motorrad über die Anforderungen hinaus vertraut zu sein, die sich im realen Straßenverkehr stellen. Wer sich immer nur innerhalb des Spektrums bewegt, das sich im alltäglichen Verkehr stellt, hat einen Haufen Erfahrung und entwickelt einen "zusätzlichen Sinn" für verschiedene sich anbahnende Dinge oder Gefahrenquellen im Zusammenspiel mit den anderen Verkehrsteilnehmern oder am Straßenrand. Hilft auch weiter und ist nicht zu unterschätzen.
Vor einigen Jahren fuhr ich auf eine gut einsehbare Kurve in der Feldmark zu, die physikalisch locker mit deutlich über 100 geht, bei erlaubten 70. Auf dem Acker stand eine Großberegnungsanlage, der Wasserwerfer direkt an der Trommel und tropfend, also wohl gerade fertig geworden. Also habe ich langsam gemacht. Der eilige CBR 600-Fahrer der mich noch vor der Kurve überholte, geriet auf der im Kurvenverlauf von der Beregnung nass gewordenen Straße ins Rutschen und lag auf der Nase. Glücklicherweise nichts weiter passiert. Ob der Bauer das darf, ist eine andere Sache. Sowas meine ich mit "zusätzlichem Sinn". Bekommt man mit der Zeit.
Davon getrennt sehe ich die reine Fahrzeugbeherrschung.
Da habe ich schon immer "gespielt" und tue das auch heute noch. Mir macht das Fahren Spaß und daher spiele ich mit den Fahrzeugen um des Spielens willen. Vor 48 Jahren, als ich anfing, gab es noch keine Sicherheits-, Kurven- und Rennstreckentrainings, so wie heute. Da haben wir auf der Straße, auf dem Feldweg, in der Kieskuhle und dem Truppenübungsplatz geübt. Nicht alles legal.
Heute mache ich gelegentlich Sicherheits- und Kurventrainings mit. Meiner Ansicht nach werden einem dort die verschiedenen Phänomene vorgestellt und ein paar Mal geübt. Die Anzahl der Übungsvorgänge hält sich aber auch bei einem 8-stündigen Training mit einer 12-Personen-Truppe in Grenzen.
Um das alles wirklich zu verinnerlichen, reichen ein, zwei Trainings im Jahr meiner Meinung nach nicht aus.
Und so baue ich meine Übungen in meine Ausfahrten ein. Manches nur dann, wenn kein anderer in der Nähe ist und ich die Gegend so gut kenne, daß ich auch weiß, daß niemand aus einem versteckten Waldweg kommen kann. Sobald jemand hinter oder vor mir fährt oder entgegen kommt, jemand in einer Einmündung steht, Fußgänger oder Radfahrer in der Nähe sind, fahre ich weitgehend innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen und für die anderen berechenbar.
Glücklicherweise wohne ich in einer eher dünn besiedelten Gegend mit wenig Verkehr, wo man durchaus ab und zu allein auf der Straße ist.
Und so übe ich vor allem das Bremsen. Eigentlich auf jeder Ausfahrt. Wenn niemand von hinten kommt, suche ich mir einen Punkt, an dem ich mit einer bestimmten Bremskraft zum Stehen kommen möchte. Die Bremsungen können unterschiedlich stark sein, ab dem Beginn der Bremsung wird der Druck am Handhebel jedoch nicht mehr verändert. Zu Beginn der Saison bleibe ich einige Male vor oder hinter dem angestrebten Punkt stehen, mit zunehmender Übung treffe ich immer genauer. Mir gibt das ein besseres Geführ für die Bremse. Oder ich fange vor einem Tempo-70-Schild an zu bremsen und versuche, genau am Schild auf 70 zu sein, ohne die Bremskraft zu variieren. Wenn keiner hinter mir ist, vor dem 70-Schild auch gern mal im ABS-Regelbereich. Allerdings nie, wenn direkt danach eine Einmündung kommt, an der ein Wartender verunsichert werden könnte.
Das ABS im Regelbereich probiere ich auf fast jeder Ausfahrt aus. Aus 100 km/h sowieso, gelegentlich auch deutlich schneller. Natürlich auf der Landstraße, aber nur wenn kein anderer in Sicht ist. Auf der Autobahn ginge das nicht, weil immer welche da sind oder unkalkulierbar dazu kommen. Aber ich bin der Meinung, wer sich traut, 150 zu fahren, sollte sich auch trauen, aus dieser Geschwindigkeit zu bremsen. Das nur zwei Mal im Jahr beim ADAC für je ca. 200€ in einem Ganztagstraining aus 60 km/h zu üben, reicht meiner Meinung nach nicht, um es zu verinnerlichen.
Seit ich Kurven-ABS habe, probiere ich auch das regelmäßig aus. Wenn niemand anderes in Sicht ist, wird mal in der Kurve voll reingelangt. Gern auch im Regen oder im Kreisverkehr. Bei Kreisverkehren ist blöd, daß es immer nur rechts rum geht.
Und das Gasgeben probiere ich auch. Vor allem in den kleinen Gängen, vom 1. bis in den 3. Gang mit Vollgas, Schalten bei Nenndrehzahl. Mit der K1300S anfangs jedesmal eine Überwindung. Weit ab von der nächsten Ortschaft auf einsamer Landstraße, 2 km freie Sicht, keine Einmündung, nur Äcker. Wenn der Bauer auf dem Feld ist, lasse ich es bleiben, will ja nicht auffallen. So etwas kommt bei normaler Fahrt nicht vor, da fahre ich im 5. mit 55 durch die Ortschaft und gebe am Ortsende leicht Gas. Aber ich möchte, falls es, aus welchem Grund auch immer, im Alltag einmal dazu kommt, daß ich unversehens mehr Gas gebe(n muß), als ich vorhatte, nicht von einer Gewalt überrascht werden, die ich mir nicht vorstellen kann, mit der ich nicht rechne und die mich dann überfordert, siehe ganz oben. Und deswegen übe ich es regelmäßig.
Und da es mir mit Mitte 60 langsam so vorkommt, daß der Rechner auf dem Hals auch bei diesen bewusst provozierten Eskapaden nicht mehr ganz folgen kann, überlege ich mir, mich von meiner K1300S und auch der R1250R zu trennen und nach einer V85TT oder Royal Enfield 650 ausschau zu halten.
Kurvenfahren übe ich natürlich auch. Aber nur, wenn keiner unmittelbar hinterher fährt und die Kurve bis zum Kurvenausgang inklusive eines ausreichenden Bereichs dahinter einsehbar ist, dort niemand unterwegs ist und bekanntermaßen keine Wege einmünden. Und wenn ich die Tempo-30-Kurve mitten in der Landschaft, in der vor 40 Jahren mit schlechtem Fahrbahnbelag und schlechteren Reifen noch gar kein Schild stand, ohne mulmiges Gefühl, wie damals legal, mit 100 durchfahren kann, dann kann das für alle anderen nur gut sein, wenn ich gemeinsam mit ihnen bei 40 km/h in der Kurve noch reichlich Reserven für Eventualitäten habe.
Wenn im Herbst der erste Schnee gefallen ist, fahre ich noch vor dem Straßendienst mit dem Auto auf eine Nebenstrecke, probiere ABS-Bremsungen, teste wann die Räder durchdrehen, fahre Slalom bis der Wagen anfängt, auszubrechen. Damit bekomme ich ein Gefühl für das Auto. Auch mit abgeschalteten Assistenzsystemen. Auf einsamer Landstraße probiere ich dann auch mal zarte Drifts in der Kurve und ich fahre extra ungeräumte Wirtschaftswege statt auf der gestreuten Bundesstraße. Wenn dann auf gleichmäßig glatter Schneedecke in Kolonne 50 km/h gefahren wird, habe ich nach zweimal Gasgeben ein Gefühl dafür, ob ich überholen kann, oder es lieber sein lasse. Wenn ich mir nicht sicher bin, lasse ich es.
Und auch mit dem Motorrad bin ich nach der Devise unterwegs "lieber jedesmal zu langsam, als einmal zu schnell". Trotzdem probiere ich regelmäßig aus, was geht. Wenn auf Tour der Regen einsetzt, wird erstmal gebremst und vielleicht auch kurz Vollgas gegeben, einfach so. Das gibt mir ein Gefühl für die Bedingungen.
Auf normaler Fahrt blinkt so gut wie nie eine der Leuchten der Assistenzsysteme. Meine alte Gummikuh hat so was gar nicht und auch mit den modernen Motorrädern und Autos versuche ich so zu fahren, daß keines der Systeme anspricht. Wenn es blinkt, sage ich mir "hoppla, jetzt hättest du womöglich Hilfe nötig gehabt".
Einige dieser Übungen sind vielleicht nicht ganz StVO-konform, finden auf öffentlichen Straßen, aber ohne Publikum statt. In Summe geben sie mir ein Gefühl dafür, an welcher Stelle innerhalb der möglichen Grenzen ich mich bewege.
Ich denke, ohne die ganze in den Alltag eingestreute, vielleicht nicht immer ganz legale, Überei wäre ich auf den letzten unfallfreien 700.000 Motorrad- und 1,5 Millionen Autokilometern einmal mehr ins Schwitzen gekommen. Glück war natürlich auch dabei. Wenn das Reh eine halbe Sekunde später aus dem Graben springt, ist es zu spät.