Na wir wären ja nicht in Deutschland, wenn es nicht immer gleich ums große Ganze ginge und hinter der oft beklagten, nur schwer quantifizierbaren Zunahme der Rücksichtslosigkeit nicht immer hauptsächlich ungelöste gesellschaftliche Probleme bzw. gleich der Kapitalismus stecken würden. Geht's nicht auch eine Nummer kleiner? Wobei ich schon eine Zunahme der Rücksichtslosigkeit anzweifle.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die sprunghaft ansteigenden Probleme, die Fahrradfahrer in Ballungsräumen verursachen, nicht richtig gesehen werden, wenn man nicht die gesellschaftliche Situation dazu sieht. In München wird ganz deutlich, dass es in den Augen der Stadtverwaltung zwei Sorten von Verkehr gibt, die unterschiedlich behandelt werden, der motorisierte Verkehr - der gilt grundsätzlich als unerwünscht. Und der nicht motorisierte Verkehr, der gilt grundsätzlich als erwünscht und darf nicht belastet werden, damit er zunimmt. Dummerweise datiert ein Großteil der Stadtplanung Münchens aus den 70er bis 80er Jahren, als Fahrräder eine vernachlässigbare Erscheinung waren. Die Entscheidung, Fahrräder zu privilegieren und Autos zu schikanieren stammt hingegen aus den 90er und Nullerjahren, als die Grünen Einzug in die Münchner Stadtverwaltung hielten. Seitdem steckt die Stadt in einem unlösbaren Dilemma: Es ist weder finanzierbar noch praktisch leistbar, die Stadt in weiten Teilen einzureißen und fahrradgerecht wieder aufzubauen. Andererseits will sich Rot-Grün nicht von ihrem Dogma lösen. Das treibt dann seltsame Blüten: So schmückt die Fassade des Kreisverwaltungsreferates (unsere Stadtverwaltung) ein ca. 15 mal 20 Meter großes Fahrrad-Pictogramm, das nach außen hin den Anspruch demonstrieren soll, dass München die "Radl-Hauptstadt Deutschlands" sei - ohne dass jemals die Mehrheit der Bürger dazu mit dem Kopf genickt hätte. Vor ein paar Jahren entwickelte BMW für das Online-Paket seines 7ers eine Applikation, bei der man im Navi sehen kann, wie der Füllstand der Parkhäuser ist, die sich in der Nähe des Fahrziels befinden. Dazu brauchte BMW eine Schnittstelle zu den Parkleitsystemen der Städte. Mit den 40 größten Städten Deutschlands hatte BMW schnell einen Deal. Mit München nicht, denn München hat gar kein Parkleitsystem. dafür haben wir in der Innenstadt die höchsten Parkgebühren, und die aggessivsten Politessen, auf dass sich die Stadt an Tickets dumm und dusselig verdiene. Ich bin inzwischen fest davon überzeugt, dass die Stadtverwaltung durchsetzt ist von Leuten, die gezielt dafür sorgen, dass der Münchner Verkehr behindert wird - um so den Nährboden für radikale Lösungen zu schaffen. Inzwischen wird immer häufiger die komplette Sperrung der Innenstadt für Autos diskutiert. Beispiele für die Schikanen finden sich immer wieder. So ist es inzwischen üblich, dass bei privaten Baustellen im Innenstadtbereich sofort die Straßenspur vor der Baustelle gesperrt wird, damit die Bauarbeiter ihren Pausenraum haben. Das hat zum Beispiel auf der Schwanthaler Straße, einer Haupteinfallsstraße aus dem Westen in die Innenstadt, dazu geführt, dass diese Straße seit mindestens zehn Jahren nie frei befahrbar ist - immer ist irgendeine Baustelle auf der Straße, die alle behindert. 1996, also vor 18(!) Jahren, entschieden sich die Münchner in einem Bürgerentscheid für eine Untertunnelung des Mittleren Rings an drei neuralgischen Stellen. Jetzt sind erst zwei der drei Tunnels fertig, am dritten wird noch gebaut, und das dauert nochmal mindestens zwei Jahre. SPD-OB Ude war damals dagegen und wollte lieber den Dauerstau haben. Warum wohl?
Es gibt auch lauter kleine Sachen, die nerven: Heute musste ich über acht Kilometer die Kraillerstr./Wasserburger Landstraße stadtauswärts fahren, eine der Haupteinfallstraßen vom Osten in die Stadt. Es war mittelprächtiger Verkehr, und jede zweite Ampel war rot. Die Straße quert auf dieser Strecke kaum wichtige andere Straßen, warum hat die keine grüne Welle?
Die Radfahrer waren über Jahre das Hätschelkind der grünen Stadtpolitiker. Es wurde offen dazu aufgerufen, Straßenraum umzuwidmen und für etwas anders zu benutzen als für motorisierten Verkehr. Initiativen wie "Wandelbaumallee" (in große Töpfe eingepflanzte Bäume wurden absichtlich auf die Parkstreifen von Straßen gestellt, um den Parkraum zu verknappen) oder "Blade Night" (in den Sommermonaten wurden jeden Montag rund 50 km Straßen für den motorisierten Verkehr gesperrt, damit Rollerblader darauf fahren können) fanden mit ausdrücklicher Unterstützung der Stadt statt.
Der Verfolgungsdruck für Fahrradfahrer bei Verkehrsdelikten war jahrelang gleich null. Wenn Rollerblader oder Skater im fließenden Verkehr geduldet werden, dann ist es ja auch egal, ob am Rad das Licht geht. Diese Situation hat bei vielen Fahrradfahrern zum tiefen Glauben geführt, Verkehrsregeln gelten nur für den motorisierten Verkehr. Erst vor ein, zwei Jahren hat die Münchner Polizei damit begonnen, im Sommer in konzertierten Aktionen den Radlern stärker auf die Finger zu klopfen - und stößt dabei auf völliges Unverständnis. Eine Kollegin von mir wurde neulich dabei gestellt, wie sie mit dem Rad über eine rote Ampel fuhr. Sie musste 25 Euro bezahlen - und schimpfte anschließend wie ein Rohrspatz. Nicht über sich selbst, dass sie so bescheuert war, sich von den Bullen bei der Rotlichtfahrt erwischen zu lassen, sondern über die Ungerechtigkeit der Welt. Dasselbe mit einem Kollegen von mir, der auf dem Rad beim Telefonieren mit einem Handy erwischt wurde. Macht man so was mit dem Auto, hat man gleich Punkte auf dem Konto.
Das Anspruchsdenken der Radfahrer wird auch in dieser Diskussion deutlich. Hier erklärt einer, er fahre aus gesundheitlichen Gründen mit dem Rad. Der Verkehrsraum ist aber eigentlich kein Sanatorium...
Es ist schon ein gesellschaftliches Phänomen, da bin ich mir ganz sicher.