Worauf es häufig ankommt im Leben: das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Sehr viele der Vorschreiber können dies im Zusammenhang mit dem Thema "Schutzbekleidung" offensichtlich nicht.
Das Schicksal, die Leiden und die Kosten der Behandlungen für Bergsteiger, Inlineskater, Paraglider, Drachenflieger, Taucher, Gardinen-ohne-Leiter-Aufhänger, McDonalds-Stammgäste, Raucher, Übergewichtige und was weiß ich - interessiert nicht die Bohne, wenn es um die Frage geht, ob man auf dem Motorrad angemessene und vollständige Schutzbekleidung zu tragen habe, oder nicht.
Die gedankliche Verbindung wird erst durch die Frage des zivilrechtlichen Mitverschuldens ausgelöst, das darin gesehen wird, daß der Motorradfahrer gegen die "verkehrsübliche" Sorgfalt verstößt, also fahrlässig handelt, wenn er ohne (oder ohne angemessene) Schutzbekleidung fährt.
Es ist eine absurde Verwendung des "tu quoque" - Arguments, die dann dazu führt, daß sich diejenigen, die ihrem "Bauchgefühl" nachgebend ohne Schutzbekleidung Motorradfahren, darauf berufen: solange sich Raucher, skater, Bergsteiger, McDonalds-Kunden, Biertrinker, Schnapstrinker, Bergsteiger undsoweiter selbst gefährden dürfen - dann kann, dann darf ich das ja auch und das hat mir niemand streitig zu machen.
Rational zu behaupten: vollständige Schutzbekleidung, bestehend aus festem Schuhwerk, zerstörungs- und abriebresistenter Hose und Jacke mit Protektoren an besonders gefährdeten Stellen, Handschuhen und Helm (den Nierengurt lasse ich hier mal weg, weil er hauptsächlich vor Gefahren des Motorradfahrens an sich ohne Fremdbeteiligung schützt) - sei entbehrlich, man könne auch "so" in normaler Strassenbekleidung fahren, erst recht, wenn es heiß ist, oder wenn man nur zur Tanke zum Kippen holen oder zum Bäcker 2 Strassen weiter fahren wolle - ist im Jahre 2009 nach Jahrzehnten von Unfallanalysen, die auch immer wieder in der Motorrad-Fachpresse veröffentlich wurden, schlicht unmöglich geworden.
Man zeige mir eine einzige Veröffentlichung aus den gängigen Motorradzeitungen der letzten 10 Jahre, in denen ernsthaft behauptet und begründet wurde, warum vollständige und angemessene Schutzbekleidung entbehrlich sei - und ich nehme alles zurück, was ich hier gesagt habe.
Lediglich in Internet-Foren hat man noch die Möglichkeit, den Verzicht auf angemessene Schutzbekleidung als legitimes "Freiheitsrecht" in Anspruch zu nehmen, und mit beträchtlichem dialektisch-rhetorischen Aufwand zu verteidigen. Da wird man auf einmal wieder ganz rational, wenn es darum geht, für diese Vernunftwidrigkeit (ein nur etwas weniger polemischer Ausdruck für Dummheit ist) die Lanze zu brechen.
Mit einem Bruchteil dieser Rationalität würde man durchaus in der Lage sein, die Vernunftwidrigkeit des Fahrens ohne Schutzbekleidung zu erkennen, sie künftig zu unterlassen, nur noch mit angemessener Schutzbekleidung fahren.
Aber der Mensch ist nun mal zwar "vernunftbegabt" - aber eben nicht, wie das aufklärerische Menschenbild uns glauben machen will, "vernunftgesteuert". "Gesteuert" wird der Mensch von woanders her: er kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will (frei nach Freud).
Der einzige Grund, warum ich mich überhaupt an diesem thread beteilige, ist das Interesse an dieser "Meta-Unvernunft", wie sie sich hier ungehemmt ausbreitet, die darin besteht, das glasklar und sogar evident, dh ohne gedankliche Zwischenschritte, als solche erkennbare Unvernünftige mit beträchtlichem Aufwand an Rationalität, an dialektischen-rhetorischen Kniffen und Argumenten zu verteidigen.
Ich vermute, daß es sich um einen Anwendungsfall des sogen. "Risiko-Integrals handelt" - hierzu Bernt Spiegel (am Beispiel der unangemessener Kurvengeschwindigkeit):
"... Wird einem Fahrer das Risiko deutlich, das darin besteht, sich auf das Vorstellungsbild zu verlassen, so heißt das noch keineswegs, daß er nun eine Geschwindigkeit wählen würde, bei der ein plötzliche im Kurvenausgang auftauchendes Hindernis ohne weiteres zu bewältigen wäre. Nein, er macht vielmehr etwas höchst Merkwürdiges: er fährt ein wenig langsamer, weil da ein Hindernis stehen könnte, aber er fährt noch bei weitem zu schnell für den Fall, daß da tatsächlich ein Hindernis steht.
Das ist das sogenannte Risikointegral. Der Fahrer bildet, vereinfacht ausgedrückt, eine Art Mittelwert aus der Schwere des möglichen Ereignisses (das immer tötliche Folgen haben kann) und aus der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts, die in der Tat nur gering ist.
Unser Alltag ist voll von solchen unsinnigen "mittleren" Lösungen, die eben nur halbe Lsungen und sämtlich unzureichend sind. Hier muß die rationalle Kontrolle einsetzen und "nachbessern". Die Tiefenperson verfügt nicht über die geeigneten Programme für ein Verhalten, das solchen Situationen angemessen wäre."
(Die obere Hälfte des Motorrades, 4. Aufl., 2003, S. 97/98)
Ich vermute, daß die "naggisch-Fahrer", die zwar in jeans und t-shirt, aber dann doch vielleicht noch mit Stiefeln, Helm und Handschuhen durch die Gegend fahren, genau diesem Prozeß des "Risikointegrals" unterliegen: ihr Unterbewußtes bildet einen "Mittelwert" aus der Wahrscheinlichkeit des Sturzes einerseits ("Mir passiert doch nix - bei meiner Erfahrung !"), und den bekannten Sturzfolgen andererseits. Wobei dann gerne auch für diese andere, die negative Seite der "Integralrechnung" die Beispiele herangezogen werden, wie jemand vor ein paar Jahren in jeans unverletzt einen Sturz bei Tempo 200 auf der Bahn überstanden hat. Hört man ja immer wieder ! Ergebnis: man braucht nicht unbedingt den Protektorenkombi, nicht unbedingt die Stiefel, und wenn man nicht so schnell fährt, auch nicht unbedingt Handschuhe - wenn man fällt, kann man ja ein bischen aufpassen ...
Gegen diesen psychischen, unterbewußten Prozess, der dann in pubertären Halbstarkensprüchen wie: "Ich will selbst entscheiden, was ich anziehe!" mündet, und dem Ganzen dann in Debatten wie den hiesigen auch noch einen pseudorationalen Anstrich verpasst ("Beleg mal den Unsinn, denn Du da schreibst!"), muß man rational angehen. Nicht in solchen verhältnismässig sinnarmen Diskussionen, sondern vor jeder Ausfahrt.
Wenn man das nicht kann, ist das ein Indiz dafür, das man fürs Motorradfahren nicht mit der dazu erforderlichen Intelligenz ausgestattet ist.