Zusatzinfo:
Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 7 U 91/23 – Urteil vom 16.04.2024
Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall mit Todesfolge am … in …
Die Klägerin zu 1) ist die Witwe H., die Klägerinnen zu 2) und 3) seine Waisen. Herr H. befuhr mit seinem Motorrad bei eingeschaltetem Fahrlicht gegen 21:45 Uhr die K.-Straße. Am Ortsausgang der Ortschaft Wiemersdorf beschleunigte Herr H. das Motorrad, um einen Rettungswagen zu überholen. Auf dieser Strecke befand sich eine Baustelle. Hier war die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h beschränkt, was durch Verkehrszeichen 274 bekanntgegeben war. Die Bauarbeiten waren bereits abgeschlossen. Ohne die noch wirksame Geschwindigkeitsbeschränkung hätte auf dieser Strecke die reguläre außerörtliche Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h gegolten. Herrn H. entgegen kam der Beklagte zu 1) als Fahrer des bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw. Der Beklagte zu 1) beabsichtigte nach links abzubiegen. Er nahm den Überholvorgang des Motorradfahrers wahr und sah das Scheinwerferlicht des Motorrades. Dem Beklagten zu 1) war bekannt, dass während der Dauer der Baustelle für den entgegenkommenden Verkehr eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h angeordnet war. Er schätzte die Geschwindigkeit des entgegenkommenden Motorrades zu niedrig ein, so dass er mit dem Abbiegemanöver begann, weil er glaubte, den Abbiegevorgang gefahrlos zu Ende führen zu können. Mit der wahren Geschwindigkeit des Motorrades rechnete er nicht. Angesichts des links abbiegenden Beklagten zu 1) leitete Herr H. eine Vollbremsung ein. Dabei verlor er die Kontrolle über das Motorrad, stürzte und prallte gegen die Beifahrerseite des Pkws. Dabei wurde er so schwer verletzt, dass er sofort verstarb. Der in dem Strafverfahren gegen den Beklagten beauftragte Gutachter errechnete, dass Herr H. zum Zeitpunkt der Reaktionseinleitung vor der Kollision das Motorrad auf 109 bis 124 km/h beschleunigte. Bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h hätte Herr H. sein Motorrad im Moment der Reaktionsaufforderung noch rechtzeitig durch eine spurstabile Abbremsung anhalten können. Dies wäre ihm selbst bei einer Geschwindigkeit von 75 km/h noch möglich gewesen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten des Sachverständigen vom 27.05.2021 (Bl. 46-98 der Beiakten) Bezug genommen.
Die Klägerinnen haben behauptet, zum Unfallzeitpunkt sei die Fahrbahnoberfläche durch einsetzenden Regen feucht gewesen. Bei Zugrundelegung einer feuchten Fahrbahn hätte der Sachverständige zu einer niedrigeren Ausgangsgeschwindigkeit kommen müssen. Das Verkehrszeichen 274 habe Herr H. nicht wahrnehmen können, weil er sich bereits im Überholvorgang befunden habe, so dass die Sicht auf das Verkehrszeichen durch den zu überholenden Rettungswagen verdeckt gewesen sei.
Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, der Verkehrsunfall sei für den Beklagten zu 1) unabwendbar gewesen. Auf die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung des Unfallgegners habe er sich nicht einstellen können, zumal die Geschwindigkeit des Motorrades gerade in der zum Unfallzeitpunkt herrschenden Dämmerung deutlich schwerer einzuschätzen gewesen sei, als bei einem Pkw mit zwei Scheinwerfern.
Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme (Zeugenvernehmung, Einholung einer amtlichen Auskunft, Beiziehung der Strafakte) die Klage auf der Grundlage der Annahme der Haftung von 35 % zu 65 % zu Lasten der Beklagten als begründet angesehen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Beklagten zu 1) habe gegen § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO verstoßen, wonach derjenige, welcher abbiegen will, entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen muss. Mehrmaliges genaues Hinsehen hätte es dem Beklagten zu 1) ermöglicht festzustellen, wie schnell der Motorradfahrer wirklich gewesen sei. Aber auch für den Motorradfahrer sei der Zusammenstoß weder unvermeidbar noch unverschuldet gewesen. Zeitlich-räumlich wäre es nicht zu dem Zusammenstoß gekommen, wenn der Motorradfahrer die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eingehalten hätte. Der Unfall wäre auch dann noch für den Motorradfahrer vermeidbar gewesen, wenn er eine Geschwindigkeit von 75 km/h eingehalten hätte. Den Klägerinnen sei der Beweis einer nassen Fahrbahn zum Unfallzeitpunkt nicht gelungen. Darauf, ob Herr H. wahrgenommen habe, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung noch vorlag, obwohl die Baustelle abgearbeitet war, komme es nicht an. Bei der Haftungsabwägung hat das Landgericht das deutlich schwerere Gewicht auf Seiten des Beklagten zu 1) gesehen. Zwar hätte der Motorradfahrer den Unfall bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit mit einem Notmanöver vermeiden können, jedoch sei das Notmanöver erst durch das Fahrverhalten des Beklagten herausgefordert worden.
---
Berufung
---
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 2. Juni 2023 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kiel unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, den Klägerinnen sämtliche immateriellen und materiellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom … in F. zu 50 % zu ersetzen, sofern die Ansprüche nicht auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger, übergegangen sind oder übergehen werden.